MONTAG, 14.45 UHR

Weidrich wohnte in einem kleinen, unscheinbaren Einfamilienhaus. Erst nach mehrmaligem Klingeln wurde geöffnet. Vor ihnen stand ein großer, bulliger Typ, dessen Alter schwer zu schätzen war, das Gesicht war von tiefen Kerben durchzogen, er hatte dunkle, sich über die Jahre eingegrabene Augenringe, sein Atem roch nach Schnaps. Er sah unausgeschlafen aus, das schwarze Haar war fettig, ein Vier-, Fünf- oder Sechstagebart ließ ihn noch düsterer erscheinen. Er trug eine dunkelblaue, von Flecken übersäte Sporthose und ein grün-schwarz kariertes Holzfällerhemd, das offen stand, und darunter ein ehemals weißes Unterhemd, das ebenfalls zahlreiche Flecken aufwies. Die Augen waren glasig und rot unterlaufen. Das Bild, das sich den Kommissaren bot, war das eines offensichtlich schweren Alkoholikers.

»Herr Weidrich?«, fragte Henning und hielt seinen Ausweis hoch. »Mein Name ist Henning, und das ist meine Kollegin Frau Santos. Wir sind von der Kripo Kiel.« »Ja, was gibt's?« Seine Stimme war tief und rauh, nach seiner Frage hustete er.

»Wir würden uns gerne mit Ihnen unterhalten, am besten drin.«

»Warum? Habe ich was verbockt?«

»Es geht um den Tod von Ihrem Boss, Herrn Bruhns.«

»Was? Bruhns ist abgenibbelt? Wann?«

»Können wir bitte im Haus weiterreden?«

»Immer rein in die gute Stube, ist nur nicht aufgeräumt,

kam in der letzten Zeit nicht dazu.« Trotz seines sicher nicht niedrigen Promillepegels kamen die Worte klar und deutlich über seine Lippen.

Es roch nach abgestandenem Rauch, seit Wochen schien hier niemand mehr Hand angelegt zu haben, um wenigstens ein bisschen Ordnung zu schaffen, überall Flaschen, Bier, Wein, Schnaps, überquellende Aschenbecher, Asche auf dem Tisch, den Sitzmöbeln, dem Boden, die Küchentür stand offen, benutzte Teller mit Essensresten stapelten sich in der Spüle und auf der Ablage, Müllbeutel verbreiteten einen entsetzlichen Gestank. Santos fragte sich, wie ein Mensch hier leben konnte, doch die Antwort gab Weidrich selbst, er war Alkoholiker und befand sich, wie so viele seiner Suchtgenossen, in einem lethargischen Zustand am Rand der Apathie, einer Leck-mich-am-Arsch-Einstellung, die verhinderte, dass er selbst die geringsten Tätigkeiten in der Wohnung erledigte.

»Setzen Sie sich, wenn Sie Platz finden«, brummte er und wischte ein paar Klamotten vom Sofa, während er sich in einen zerschlissenen Sessel fallen ließ. Auch im Wohnzimmer Staub und Dreck, wohin man sah. Der Fernseher lief, Weidrich steckte sich eine Zigarette an (der Zeige-und Mittelfinger der rechten Hand waren vom Nikotin dunkelgelb) und musterte misstrauisch die Kommissare, die sich zögerlich auf die Couch setzten. »Sie sind Toningenieur bei Bruhns, wie uns gesagt wurde ...«

»Ha, ich weiß zwar nicht, von wem Sie das haben, aber das ist eine Uraltinfo. Ich bin schon seit über einem Jahr raus.«

»Ach ja? Und wieso, wenn man fragen darf?« »Ph, das Arschloch Bruhns hat mal wieder 'nen Anfall gekriegt und mich rausgeschmissen. Ich hätte was nicht richtig abgemischt, und zack, war ich draußen. Über zwanzig Jahre habe ich mir den Arsch für den Drecksack aufgerissen! Über zwanzig Jahre, das muss man sich mal reinziehen. Ich habe mir nie was zuschulden kommen lassen, das können Sie mir glauben, aber Bruhns, die alte Schmeißfliege, war nie zufrieden. Dabei hatte der selbst nicht den blassesten Schimmer von guter Mucke. Seine Scheißlieder taugen gerade mal für die Tonne.« »War's das?«

»Nee, ich könnt Ihnen Geschichten erzählen, da fällt Ihnen hinterher nichts mehr ein. Ich bin nicht unbedingt der gehässige Typ, aber Bruhns ... Moment mal, jetzt schnall ich das erst, sind Sie von der Kripo?« »Das habe ich doch vorhin gesagt.« »Kripo, Kripo, hm.« Er fuhr sich mit der Hand, die die Zigarette hielt, übers Kinn, unter den langen Fingernägeln stand der Dreck, was den Ekel, den die Kommissare empfanden, noch verstärkte. Santos wandte den Kopf zur Seite, und ihr fiel die sündhaft teure Hi-Fi-Anlage ins Auge, das einzige Teil in der Wohnung, das nicht verdreckt war, High-End-Geräte und -Boxen, die ein halbes Vermögen gekostet haben mussten. Ein paar funkelnde Diamanten unter Kohlenstaub.

»Sag mal, ihr kommt doch nur, wenn jemand abgemurkst wurde. Wurde Bruhns abgemurkst?« »Ja, so kann man es auch nennen.«

»Wow, darauf muss ich glatt einen Schluck trinken.« Er nahm eine halbvolle Flasche Wodka vom Boden und setzte sie an, nahm einen langen Schluck, rieb sich mit der Handfläche über den Mund und stellte die Flasche wieder neben den Sessel. »Hat's ihn also endlich erwischt, dieses arrogante, verkommene Arschloch. Tut mir leid, aber sollten Sie Trauer erwarten, muss ich Sie leider enttäuschen, denn in mir tanzt im Augenblick die Freude Rock 'n' Roll.« »Und warum keine Trauer?«

»So wie der mich behandelt hat, kann ich nicht traurig sein. Nicht nur mich hat er behandelt wie den letzten Dreck. Sie hätten mal dabei sein sollen, wenn er mit seinen sogenannten Stars im Studio war, der hat nur rumgebrüllt und mit Zeugs um sich geschmissen, dass ich ihn manchmal dafür hätte erschlagen können. Was glauben Sie, wie viele von seinen Mädels einem Nervous Break-down, um mal die Stones zu zitieren, nahe waren, wenn er sie mal wieder runtergeputzt hat. Aber zum Vögeln waren sie alle gut genug.«

»Haben Sie's getan?«, fragte Henning geradeheraus. »Ich? Sind Sie bescheuert? Warum, nur weil er mich gefeuert hat? Ich bin doch nicht blöd.« »Na ja, es gab schon geringere Gründe, jemanden kaltzumachen. Wo waren Sie am Samstagabend?« »Wo soll ich schon gewesen sein, hier natürlich.« »Zeugen?«

»Hey, ist das ein Verhör oder was?«

»Nein, nur eine Befragung. Was ist nun, gibt's Zeugen oder nicht?«

»Nee, hier war schon ewig keiner mehr. Ich hock hier rum, baller mir die Birne zu und unterhalt mich mit der Glotze, ist ja sonst niemand da.« »Haben Sie wieder einen Job?«

»Nee, Sie sehen ja selbst, wie ich drauf bin, da nimmt mich keiner. Ich komm aber noch ganz gut über die Runden.«

»Warum sind Sie gefeuert worden?«, wollte Santos wissen. »Es muss doch mehr vorgefallen sein als eine falsche Abmischung.«

Weidrich lachte auf, bekam einen Hustenanfall und erwiderte, nachdem er wieder sprechen konnte: »Gut erkannt, Frau Kommissarin. Ist aber 'ne lange Geschichte. Wollen Sie die wirklich hören?« »Sonst hätte ich nicht gefragt.«

»Wenn ihr's abkönnt. Bruhns war kein Heiliger, wenn ich das Arschgesicht nur im Fernsehen gesehen hab, habe ich 's große Kotzen gekriegt. Von wegen tolle Ehe und seine wilde Zeiten wären vorbei. Einen Scheißdreck waren die. Ich kenn Bruhns seit über zwanzig Jahren, der hat alles gevögelt, was nur den Ansatz von Titten hatte. Na ja, nicht alles, älter als fünfundzwanzig durften sie nicht sein. Eher achtzehn oder zwanzig. Das war so seine Kragenweite. Wenn ihm eine besonders gut gefiel, dann hat er auch mal 'ne Platte mit ihr gemacht. Aber erst mal war Vögeln angesagt, und wenn das gut gelaufen ist, dann war auch die Platte kein Problem.« »Haben Sie sich darüber geärgert?« »Nee, war mir scheißegal, wo der überall seinen Schwanz reingesteckt hat, bloß, ahm ...«

Weidrich stockte, kratzte sich am Kinn und griff erneut zur Flasche, es schien ein Ritual zu sein, der Griff, das Ansetzen, der lange Zug, das Wischen über den Mund, das Abwischen des Handrückens an der Hose und schließlich die Flasche wieder auf den Boden stellen. Er zögerte und wollte schon wieder zum Wodka greifen, als Santos ihn mit einer Frage davon abhielt.

»Bloß was? Was wollten Sie noch sagen?« Weidrichs Kiefer mahlten aufeinander, sein Blick ging ins Leere, und doch loderte in seinen Augen ein gefährliches Feuer. Er hielt die Flasche fest umklammert und wirkte mit einem Mal nüchtern, als er antwortete, wobei der Griff um die Flasche noch kräftiger wurde: »Scheiße, Mann, is gar nicht so einfach. Ah, scheiß drauf, der Alte ist tot und kann mir gar nichts mehr. Bruhns war 'ne gottverdammte Drecksau, wie ich noch nie eine erlebt habe. Ihr könnt mir glauben, ich habe mich echt nicht geärgert, wenn der mit den Weibern rumgemacht hat...« Er hielt erneut inne, Santos sagte: »Was macht Sie dann so zornig? Sie sind doch zornig, oder?« »Zornig ist gar kein Ausdruck.« Er beugte sich vor, steckte sich eine weitere Zigarette an, inhalierte tief und blies den Rauch durch die Nase wieder aus. Er atmete ein paarmal hastig, alles in ihm schien bis zum Äußersten angespannt, schließlich trank er doch noch einen Schluck Wodka, bevor er weitersprach. »Die Drecksau hat's nicht nur mit Frauen getrieben, der hat auch Kinder genommen. Kinder, die noch gar nicht wissen, was mit ihnen passiert, wenn ihnen ein Schwanz reingeschoben wird. Ey, was ist das für'n Arschloch, das Kinder vögelt? Ich schwör's bei allem, was mir heilig ist, das ist zwar nicht viel, aber ein paar Grundsätze habe ich doch; der Kerl hat Kinder gefickt, kleine Mädchen, und ich habe keinen blassen Schimmer, wie er an die rangekommen ist. Einen Plattenvertrag hat der denen ganz sicher nicht versprochen, eine Zehn-, Elf- oder Zwölfjährige kannste in Deutschland nicht vermarkten ...« »Woher wissen Sie das mit den Kindern?«, fragte Santos, deren Herz immer schneller schlug. »Ich hab's ein paarmal mitgekriegt, wie die Mädels ins Studio kamen. Am Anfang hab ich das gar nicht richtig gecheckt, bis ich ihn einmal in flagranti erwischt hab. Das war der absolute Oberhammer, die Kleine war höchstens zwölf oder dreizehn. Ich hab ihn danach drauf angesprochen, ich hab ihm gesagt, hey, Alter, das kannste nicht machen, aber er hat gemeint, er könne alles, und ich solle mich bloß nicht einmischen, sonst würde ich ganz schnell auf der Straße sitzen, und keine Sau würde mich mehr nehmen, dafür würde er sorgen. Wen er fickt, wäre allein seine Sache.«

»Wieso sind Sie nicht zur Polizei gegangen?« »Ph, Bullen! Ich bin doch nicht bescheuert! Was für Beweise hätte ich denn gehabt? Ich hatte doch keine Fotos oder sonst irgendwas in der Hand! Der war viel zu clever, und außerdem hatte er Beziehungen ohne Ende.« »Weswegen wurden Sie entlassen?«, fragte Santos. »Weil Sie ihn in flagranti erwischt haben?« »Nee, das war vor drei oder vier Jahren. Ich habe mein Maul gehalten, und ich dachte ja auch, dass es vorbei wäre, als er seine Victoria kennengelernt hat, aber nach der Hochzeit hat er dann so weitergemacht wie zuvor. Auch mit Kindern ...« »Wie alt?«

»So klein waren die auch nicht, aber zum Vögeln auf jeden Fall zu jung.« »Wie alt?«

»Habe ich doch schon gesagt, elf, zwölf, dreizehn, so um den Dreh. Hey, das ist doch krank! Der Kinderschänder konnte doch jedes Weib auf diesem Planeten haben, warum also Kinder? Ich hab's bis heute nicht kapiert. Ja, und dann ist mir letztes Jahr mal der Kragen geplatzt, als ich ins Studio kam und er wieder mal mit so 'ner Kleinen rumgemacht hat. Die hat keinen Spaß gehabt, das kann ich Ihnen sagen. Die war total verheult, und ich habe gesehen, dass sie Schmerzen hatte. Ich hätt Bruhns am liebsten die Fresse poliert und die Kleine in Sicherheit gebracht.«

Als Weidrich nicht weitersprach, sagte Henning: »Was ist dann passiert?«

»Ich bin dagestanden wie angewurzelt. Er hat mich natürlich bemerkt und das Mädchen angeblafft, dass sie sich anziehen und in die Ecke setzen soll, dann ist er zu mir gekommen und hat mich gefragt, was ich im Studio verloren hätte, heute wäre doch gar kein Aufnahmetermin. Das Blöde war, ich hatte am Vortag was vergessen, 'ne Aufnahme, die ich zu Hause noch mal anhören wollte, um Fehler am nächsten Tag zu korrigieren. Ich habe ihm das klarzumachen versucht, aber das hat ihn nicht interessiert. Dann habe ich ihm deutlich gesagt, dass ich mir seine Sauereien nicht länger mit angucke und beim nächsten Mal die Bullen hole.« Er drückte seine Zigarette aus, zündete eine neue an und fuhr fort: »Er hat nur gelacht, mir die Faust ans Gesicht gehalten und gesagt, dass ich gefeuert bin. Ich solle bloß nicht wagen, mein Maul aufzumachen, erstens würde mir sowieso keiner glauben, einem Säufer glaube keiner, da hat er wohl recht, und zweitens hätte er viel mehr Macht und Einfluss, als ich mir erträumen könnte. Er hat mir noch fünfzigtausend Euro gegeben und mich so 'nen Wisch unterschreiben lassen, ich weiß gar nicht mehr, was da so draufstand. Ich habe die Kohle genommen und bin weg. Seitdem habe ich das Studio nicht mehr von innen gesehen.«

»Ist es das Mädchen?«, fragte Santos und zeigte Weidrich das Foto von Nele.

Weidrich betrachtete es eingehend und nickte langsam.

»Das waren so viele Mädchen in den ganzen Jahren. Aber doch, ich habe sie gesehen, das weiß ich. Ja, ich bin sogar sicher, dass es die Kleine ist. Diese Augen werde ich mein Lebtag nicht vergessen. Sie sieht auf dem Foto nur ein bisschen anders aus, aber sie ist es, ja, sie ist es.«

»Wie lange genau ist das her?«

»Sie meinen, wann er mich gefeuert hat?«

»Ja.«

»Das Datum werd ich auch nie vergessen, das war letztes Jahr am siebten März. Der hat mich einfach so auf die Straße gesetzt, obwohl ich über zwanzig Jahre für ihn selbst die größte Drecksarbeit gemacht hab. Okay, fünfzigtausend hat er mir gegeben, damit ich's Maul halte. Aber ich hätt doch so oder so mein Maul gehalten, ich wusste doch, wie viel Macht und Einfluss Bruhns hatte. Der kannte jeden, Staatsanwälte, Rechtsverdreher, Richter, Bullen, alles und jeden kannte der. Wem, glauben Sie, hätte man eher geglaubt, einem, der gerne mal einen hebt, oder einem angesehenen Produzenten? Ist nicht gegen Sie gerichtet, aber ich habe es nicht gemeldet, weil man mich nur ausgelacht hätte.«

»Feine Einstellung, wirklich.« Santos konnte sich diesen Kommentar nicht verkneifen.

»Hey, Frau Kommissarin, ich habe keinen Job mehr, und außerdem hatte ich keinen einzigen Beweis für Bruhns' Sauereien. Hätten Sie mir geglaubt? Im Leben nicht, Sie sehen diesen Schwachkopf im Fernsehen, Sie hören seine beschissenen Sprüche, über die halb Deutschland lacht, und so einer soll Kinder missbrauchen?« Er lachte erneut höhnisch auf und deutete mit dem Finger erst auf Santos und dann auf Henning: »Sie hätten mir nicht geglaubt, Ihr Kollege nicht, keiner von euch Bullen hätte mir geglaubt, und das wisst ihr auch.«

»Sie sollten nicht alle über einen Kamm scheren ...« »Tu ich aber, denn ich kenn euch. Was glaubt ihr, wie oft bei mir schon die Bullen auf der Matte gestanden haben, weil meine Mucke zu laut war oder weil ich angeblich jemanden beleidigt haben soll ... Ich könnt 'ne ganze Menge aufzählen, aber das ist unwichtig.« »Sie trinken zu viel, das ist alles ...« »Nee, nee, nee, so einfach ist das nicht, aber ich merk schon, ihr wollt's euch gerne einfach machen. Hier der Säufer und da der ehrenwerte Herr Bruhns, vor dem alle auf die Knie fallen. Glauben Sie mir, bis vor einem Jahr habe ich einen phantastischen Job gemacht, ich habe zwar getrunken, aber ich war nie betrunken, da können Sie jeden fragen, der bei uns im Studio war. Manni war nie betrunken, und keiner konnte das Mischpult so bedienen wie ich. Hey, ich hatte Angebote sogar aus den USA, die hatten meine Mischungen gehört und wollten mich unbedingt, weil da drüben 'ne Menge Pfeifen in den Studios sitzen und von nix 'ne Ahnung haben. Ich habe mit der verfluchten Sauferei erst richtig angefangen, als ich nicht mehr wusste, was ich machen soll. Das schwör ich bei allen Heiligen dieser verfluchten Welt.« »Zu schwören brauchen Sie nicht. Wusste seine Frau von seinen Affären und dem, was er mit den Kindern gemacht hat?«

»Keine Ahnung, ich habe die ja nur ein- oder zweimal getroffen. Ich habe die gesehen und gedacht, mein lieber Scholli, die Frau ist der Hammer. Viel zu schade für Peter. Die hat nicht geschnallt, mit was für 'nem Arsch sie sich da eingelassen hat. Is 'ne feine Frau, die hat was, was die meisten, die er gevögelt hat, nicht haben.« »Ich denke, Sie haben sie nur ein- oder zweimal gesehen?«

»Na und? Was glauben Sie, wie schnell man in meinem Beruf lernt, Menschen einzuschätzen? Ohne diese Menschenkenntnis läuft gar nichts. Da kommen so 'n paar aufgedonnerte Blondinen mit Riesentitten angewackelt und meinen, sie wären die Größten, obwohl sie nicht mal 'nen graden Ton rausbringen. Ich brauchte die nur zu sehen, da wusste ich schon, das wird nie im Leben was. Soll ich Ihnen was sagen - ich habe mich nicht ein einziges Mal geirrt. Nicht ein einziges Mal! Die kommen und machen die Beine breit und denken, so könnten sie ein Star werden. Scheiße, Mann, gar nichts werden die, höchstens billige Huren, die sich für jeden Scheiß verkaufen.« Weidrich verzog den Mund zu einem Grinsen. »Wann haben Sie Bruhns das letzte Mal gesehen?«, fragte Santos.

»Weiß nicht so genau, aber das dürfte so vor drei Wochen gewesen sein. Warum?«

»Und wo? Waren Sie bei ihm, oder kam er zu Ihnen?« »Weiß nicht mehr.«

»Ach, kommen Sie, Sie erzählen uns hier alles aus den letzten Jahren, und was vor ein paar Wochen war, daran wollen Sie sich nicht mehr erinnern? Versuchen Sie nicht, uns für dumm zu verkaufen. Also, raus mit der Sprache.« Weidrich wirkte auf einmal unsicher, er wich dem Blick der Beamten aus und griff automatisch zur Flasche, der einzige Halt, den er noch hatte.

»Hey, lassen Sie mal die Flasche stehen, Sie können weitertrinken, sobald wir gegangen sind«, forderte Santos ihn auf.

»Ich kann in meinem Haus machen, was ich will. Und ich nehme jetzt einen Schluck, dann fällt mir vielleicht auch wieder ein, was vor drei Wochen war«, antwortete er und vollzog sein Trinkritual.

»Und, ist es Ihnen eingefallen?«

»Bruhns hat mich angerufen und um ein Treffen gebeten. Er hat gemeint, er könnte mich unter Umständen wieder gebrauchen. Er kam dann zu mir und bat mich um einen Gefallen, danach könnte ich wieder bei ihm anfangen. Ich hab gedacht, ich hör nicht richtig, aber der hat das ernst gemeint.«

»Was für einen Gefallen?«

»Keine Ahnung, ehrlich. Ich sollte was für ihn erledigen,

vor einer Woche. Dann hat er sich aber wieder gemeldet und gemeint, die ganze Sache würde sich verschieben. Ich schwör's, er hat mir nicht gesagt, worum es geht. Er hat ziemlich geheimnisvoll getan.«

»Wann hat er sich bei Ihnen gemeldet?«

»Letzten Dienstag.«

»Wann war der neue Termin?«

»Weiß nicht, hat er nicht gesagt.«

Henning fixierte Weidrich, bis der den Kopf zur Seite drehte. Henning nickte stumm und fragte dann: »Warum lügen Sie uns an?« »Was meinen Sie?«

»Diese Geschichte eben, das war erfunden. Bruhns hat Sie nicht kontaktiert, warum auch hätte er das tun sollen? Also noch mal, warum lügen Sie uns an?« Schweigen.

»Herr Weidrich, was soll das? Wir sind nicht zum Spaß hier.«

Weidrichs Augen glühten für einen kurzen Moment wie Kohlen, doch schnell kehrte der lethargische Ausdruck zurück.

»Dieser verdammte Bastard!«, brüllte Weidrich auf einmal wie ein verwundetes Raubtier. »Dieser gottverdammte Bastard!« Er ballte die Fäuste und haute damit auf die Sessellehnen, dass Henning fürchtete, der Sessel würde gleich auseinanderfallen. »Ich war zweiundzwanzig Jahre sein Lakai, aber ohne mich hätte er den Laden doch überhaupt nicht schmeißen können! Er hat die Weiber alle abgekriegt, mich haben sie nicht mal mit dem Arsch angeguckt. Der hat alles gehabt, und ich? Wo bin ich geblieben? Ich habe ihm doch erst gezeigt, wie so ein Studio funktioniert, wie man ein Mischpult richtig bedient, ich habe ihm beigebracht, welche Mischung für den jeweiligen Song die richtige ist.« Sein ganzer Körper zitterte vor Aufregung, als er weitersprach: »Was er kann, hat er von mir gelernt. Was habe ich bekommen? Als Dank einen Tritt in den Arsch und fünfzigtausend Euro hinterhergeschmissen, die er aus der Portokasse genommen hat. Nur weil ich ihm ein paarmal gesagt hab, dass ich das nicht gut finde, wenn er mit Minderjährigen rumfickt. Nee, eigentlich nur, weil ich an einem Tag ins Studio gekommen bin, an dem er mich nicht erwartet hatte. Dieser gottverdammte Hurensohn! Der hat jeden Monat ein paar Millionen verdient, mir hat er viertausend gezahlt ... Alles, aber auch wirklich alles hat dieser Saukerl gehabt, Weiber, Geld, Erfolg, alles, alles, alles!!!«, schrie Weidrich mit weinerlicher Stimme und saß da wie ein Häufchen Elend, ein Elend, das, wie es schien, sein Leben seit vielen Jahren beherrscht hatte. Tränen liefen ihm über das Gesicht, doch es war, als würde er es gar nicht bemerken.

»Können Sie sich vorstellen, wie das ist, wenn das Studio, in dem man sein halbes Leben fast jeden Tag gearbeitet hat, das wie ein Zuhause war, gerade mal um die Ecke liegt? Du gehst jeden Tag dran vorbei und weißt, ey, vergiss es, du hast keine Chance mehr, da reinzukommen. Das ist das beschissenste Gefühl überhaupt. Ich bin jetzt einundfünfzig, und da ist der Zug abgefahren. Ich hatte in den letzten Jahren ein paar Angebote von anderen Produzenten, die wussten, wie gut ich bin, aber ich hab sie alle ausgeschlagen. Und warum? Weil ich so ein gottverdammter Idiot bin, der auf die Scheißversprechungen von Bruhns reingefallen ist. Er hat gemeint, er würde mir genauso viel zahlen, wie die anderen mir geboten haben, und ich kann Ihnen sagen, das war nicht wenig. Einer hätte mir fünfzehntausend im Monat gezahlt, dafür hätt ich aber nach Berlin ziehen müssen, die Amis haben mir sogar bis zu vierzigtausend im Monat geboten, aber ich würde nie nach Amiland ziehen ... Ich könnt mich nicht entscheiden und habe alles abgesagt und bin bei dem verfluchten Gangster geblieben. Seine Versprechen hat er natürlich nicht gehalten, der hat genau gemerkt, wie sehr ich an Kiel und meiner Heimat hänge. Ich habe nicht mehr Kohle gekriegt, dafür musste ich mir weiter jeden Tag sein Gemaule und Gemeckere anhören ... Soll ich Ihnen was sagen? Es tut mir kein Stück leid, dass er krepiert ist. Die Welt ist von einem Stück stinkender Scheiße befreit worden.«

»Waren Sie mal verheiratet?«

»Ist 'ne Ewigkeit her. Sie hat 'nen andern gefunden, der ihr mehr bieten konnte, der ein paar Häuser über die ganze Welt verteilt hatte, all das, was sie für ihr Leben brauchte. Aber dann kam der Krebs, und sie ist vor sechs Jahren gestorben.«

»Wann haben Sie Bruhns nun tatsächlich das letzte Mal gesehen?«

»Keine Ahnung, irgendwann vor 'nem halben Jahr oder so. Aber nur aus der Ferne. Noch was?«

»Ja. Wer hat nach Ihnen bei Bruhns angefangen?«

»So ein junger strohblonder Schnösel. Bei Bruhns musste alles jung, jünger, am jüngsten sein. Dass er auf Blond steht, weiß ja jeder. Ha, guter Witz, was?«

»Nicht unbedingt. Kennen Sie diesen jungen >Schnösel<?«

»Nur vom Sehen. Hat mir aber schon gereicht.« »Gab es außer Ihnen und Bruhns noch weitere Mitarbeiter?«

»Nur 'ne Putzfrau. Die kam zweimal die Woche, manchmal auch dreimal. Die hatte aber keinen Schlüssel, die kam nur, wenn Bruhns auch da war. Weiß nicht, wie das im letzten Jahr war.« »Der Name der Putzfrau?«

»Elli, alle haben sie nur Elli genannt. Keinen Schimmer, wie die heißt.« »Wo wohnt sie?«

»Woher soll ich das wissen? Ist schon ein etwas älteres Semester, so wie ich, um die fünfzig, vielleicht auch ein paar Jahre älter. Keine Ahnung.«

»Ist Ihnen damals außer den Kindern irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen? Personen, die nicht ins Studio gehörten?«

Weidrich überlegte und antwortete nach einer Weile nickend: »Ja, da sind immer mal so zwei Typen gekommen, um mit Bruhns was zu bequatschen. Ich weiß nicht, worum es da ging, aber ich habe gespürt, das war nicht sauber.«

»Wie sahen die aus?«

»Kennen Sie den Film >Men in Black<? So ungefähr, nur dass beide weiß und ziemlich bullig waren. Einmal kam es fast zu Handgreiflichkeiten, aber dann hat Bruhns einen dicken Umschlag rübergereicht, und alles war okay.«

»Das haben Sie einfach so mitbekommen?«

»Nee, keiner von denen hat gemerkt, dass ich da war. Ich war gerade aufm Lokus und habe das zwangsläufig mitgekriegt. War wie im Film, ehrlich.« »Waren es Deutsche?«

»Nee, aus Deutschland kamen die nicht, eher aus Polen oder Russland, auf jeden Fall haben die irgend so einen osteuropäischen Scheiß gelabert.« »Hat Bruhns eine dieser Sprachen gesprochen?« »Sonst hätten die sich ja wohl kaum unterhalten können.«

»Wie lange ist das her?«

»Ein paar Tage bevor ich rausgeflogen bin, hab ich die das letzte Mal gesehen.«

»Sagen Sie mal, Sie haben wirklich nicht gewusst, dass Bruhns tot ist? Das kann ich kaum glauben. War doch überall im Fernsehen und im Radio, von den Zeitungen ganz zu schweigen.«

»Ich lese keine Zeitung und hör kein Radio. In der Glotze guck ich nur Sport. Da gibt's keine Nachrichten. Und jetzt lassen Sie mich allein, ich bin müde und will schlafen.«

»Hier«, sagte Henning, »meine Karte. Falls Ihnen doch noch was einfällt, rufen Sie mich an. Komm, Lisa, wir gehen.«

»Sie finden bestimmt allein raus«, sagte Weidrich, ohne sich von der Stelle zu rühren. »Sicher. Wiedersehen.«

»Muss nicht sein. Ich trink einen drauf, dass der Bastard verreckt ist«, rief Weidrich ihnen noch hinterher. »Ich sauf mir die Hucke voll vor Freude! Rock 'n' Roll!«

 

Eisige Naehe
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